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Text von Alexander Koch (1888 - 1970)
Vor 100 Jahren sammelten die Brüder Grimm Sagen und Märchen, wie sie im Volk umliefen und von den Alten den Jungen erzählt wurden. Wo wäre heute eine Großmutter, die das noch vermag? Und wenn schon! Kino, Radio und Fernsehen liefern bequem und schnell packende, fesselnde Unterhaltung. Wo fände sich noch Jugend in einer Wohnstube zusammen und hörte einer Erzählerin zu, selbst wenn sie vom Schlage der Frau Viehmann wäre, der Märchenfrau von Niederzwehren, der die Brüder Grimm die schönsten Ihrer Märchen verdanken? So wird bald gänzlich verschwunden sein, was an altem Sagengut in unserem Lande Hessen noch vorhanden ist.
Es sei hier von einer sagenhaften Überlieferung aus unsererem Hanauer Land berichtet, die wahrscheinlich nur noch wenigen älteren Leuten in der Gegend bekannt ist, in der sie wurzelt. Man spricht in Rüdigheim und Umgebung von der Rüdigheimer Leuchte. Um Marköbel herum sagt man auch wohl Marköbeler Leuchte. Das soll ein geheimnisvolles, spukhaftes Licht sein, das in dem Gebiet zwischen Rüdigheim, Butterstadt, Hirzbach und Marköbel bisweilen, besonders im Herbst oder Vorfrühling, in dunklen Nächten einsamen Wanderern erscheint, sie ängstigt und irreführt. Bald steht es irgendwo an einem Orte still, bald wandert es langsam wie gleitend über die Feldbreiten oder durch die Wiesengründe. Oft geht es dabei den Feldwegen nach.
Wieder: wo wäre in unseren Tagen für die Phantasie noch die Möglichkeit, derartiges wahrzunehmen? Wem sollte ein solches Lichtlein noch auffallen, wenn bis über Mitternacht hinaus auch auf den früher so einsamen Straßen des offenen Landes Kraftwagen einherbrausen, ausgerüstet mit starken Scheinwerfern, die indem sie den Windungen der Straße folgen, bald links, bald rechts Hänge und Gründe mit grellem Licht überfluten? Einer noch so kräftigen Phantasie fehlen heute nicht allein Beschaulichkeit und Muße, sondern auch die Gelegenheiten. Einst lag die Landschaft im Herbst oder Vorfrühling bei mondloser Zeit und bewölktem Himmel in undurchdringlichem Dunkel. Nur in nächster Nähe der Ortschaften gewahrte man vielleicht den matten Schein einer Petroleumlampe, der aus einem der Häuser drang, die am Rand des Dorfes lagen. Bei vorschreitender Nacht versanken im Dunkel auch die Gassen und Winkel der Dörfer.
Es war um die Mitte des vorigen Jahrhunderts. Zwei Männer kommen von der Arbeit heim. Ihr Beruf führt sie, was früher selten war, über Land. Die beiden sind Zimmerleute und haben auf dem Beiersröder Hof gearbeitet. Es ist später Herbst, längst hat die schwarze Nacht das Land mit ihren dichten Schatten zugedeckt. Auch nicht ein Stern blinkt am wolkenverhangenen Himmel. Die zwei Männer haben von Hirzbach her die Höhe erreicht, wo die Straßen sich kreuzen. Da sehen Sie nach Butterstadt zu ein Licht auf den Feldern geistern: die Rüdigheimer Leuchte!? Die Männer sind Brüder. Der eine ist groß und stark, temperamentvoll und stets bei der Hand. Der andere ältere ist bedächtig, langsameren Sinnes, frommen Gemüts. Längst verstorben, ist er der Gewährsmann dieser Geschichte, hat sie seinem Sohn erzählt und in seinem hohen Alter hin und wieder seinen Enkelkindern.
Übermütig ruft der Jüngere beim Anblick des Lichtes, das er für die Rüdigheimer Leuchte hält: “Was treibt die sich da drüben herum? Sie könnte uns doch hier leuchten!” - Kaum hat er’ s gesagt, da ist das Licht hergehuscht, steht vor den beiden Männern, in Kopfhöhe, still brennend, eine Flamme etwa einen Finger lang. Erschrocken bleiben die Männer stehen, dem Vorwitzigen, Vorlauten hat’s die Sprache verschragen. Er zittert an allen Gliedern. Schließlich sagt der Ältere: “In Gottes Namen, vorwärts!” Da weicht das Licht zur Seite, gibt den Weg frei. Die beiden schreiten zu, streben nach Hause. Das Licht aber schwebt in einem gewissen Abstand seitwärts über die Felder und nähert sich, einem Feldweg entlang, der durch einen Wiesengrund führt, wieder der Straße. In hastender Eile suchen die Zimmerleute an der Stelle, wo der Feldweg die Straße erreicht, vorbeizukommen, ehe die Leuchte dort eintrifft. Zum Glück geht es bergab, es gelingt ihnen. Als sie sich umwenden, sehen sie, daß das Licht stehengeblieben ist. Noch als sie das Dorf erreicht haben, sehen sie es da halten. Als sie an der erleuchteten Dorfwirtschaft vorbeikommen, gelüstet es sie, hineinzugehen und den Gästen zuzurufen: “Wollt ihr die Leuchte sehen, dann geht an den Marköbeler Berg!” Aber es fehlt ihnen der Mut, die Lust dazu. Nach dem ausgestandenen Grauen treibt es sie nach Hause, in das eigene bergende Heim, in die warme, helle Stube.
Nicht gerne habe der, dem dieser Bericht zu verdanken ist, dieses Erlebnis erzählt. Bisweilen geschah es doch. Dann pflegte er seine Erzählung mit den Worten zu beenden: “Es braucht’ s keiner zu glauben, aber jeder kann froh sein, wenn es ihm nicht begegnet.”
Noch eine andere Überlieferung blieb in einer Familie erhalten. Der Großvater der Hausmutter von heute fuhr den Postwagen von Marköbel aus in die umliegenden Ortschaften, auch kutschierte er dann und wann den Pfarrer. Einst ist er mit dem Pfarrer unterwegs auf einer Fahrt durch die Nacht. Der Pfarrer sitzt in einem sogenannten Halbchaise unter einem Verdeck, der Gewährsmann auf dem Kutscherbock. Da stößt der Pfarrer seinen Fuhrmann an und weist mit der Hand in das Feld: “Da, da! Seht ihr’s?” Der gibt zurück: “Ja, ja, ich habe schon gesehen?” “Wen?” „Die Rüdigheimer Leuchte“